Allgäu

60 Jahre Gastfreundschaft in Obermaiselstein

Heimaterde. Geschichte einer (Gast-)Freundschaft
60 Jahre Urlaub in Obermaiselstein

In Obermaiselstein geht die Kirchgasse von St. Katharina aus einmal rechtsherum und einmal linksherum. Dazwischen steht ein Haus, das für zwei Familien Heimat ist. Für die Familie Bader aus Obermaiselstein und für die Familie Jentzsch aus Braunschweig. Denn wenn man wie Jentzschs seit 60 Jahren dieselbe Unterkunft bucht, dann fährt man nicht in den Urlaub. Dann kommt man nach Hause.

Gewohnt hat man bei Bader, Hausnummer 9, gefrühstückt bei Dauser, gleich gegenüber in der Kirchgasse Nummer 6. Es ist ein altes Bauernhaus, hier ist alles niedrig. Die Türstöcke machen demütig, man muss den Kopf senken. Christa Jentzsch nicht, sie ist klein genug, um mit erhobenem Kopf die Stube zu betreten.

Christa hat sich auch damals nicht geduckt, als sie mit ihrem Freund ins Allgäu kam. Bei den Baders gab es Unterkunft. Es gab aber getrennte Zimmer – unverheiratet ein gemeinsames Zimmer beziehen, das war in jenen Tagen undenkbar. Jedenfalls im Allgäu. Gemeinsam frühstücken durften sie dann doch. Heute sitzt Christa Jentzsch wieder an diesem Tisch, diesmal zum Kaffee und wären ihre Hände auf dem leinenen Tischtuch nicht etwas steifer und würden sie nicht über ein Smartphone streichen, um nach einem Foto des gestrigen Ausflugs zu suchen, könnte man fast vergessen, dass zwischen Frühstück und Kaffee 60 Jahre liegen

Die Substanz eines Hauses

Auf Hausnummer 6, im Dauser-Haus, gibt es inzwischen eine Ferienwohnung. Aber an der Substanz – an der Flurküche, an Bank und Tisch, an der Lampe, die noch vom alten Pfarrhof stammt, am Medizinschränkchen und am Herrgottswinkel, hat sich nichts verändert. An den vielbetretenen Dielenbrettern nicht, am verputzten Kachelofen nicht und nicht am Licht, das gedämpft durch kleine Sprossenfenster fällt. Das Haus ist 350 Jahre alt, es braucht Pflege. Die bekommt es durch den Duft nach frischgebackenem Kuchen, durch das Trippeln und Poltern von Kinderfüßen in allen erdenklichen Größen. Das Haus bleibt beweglich – die Türen öffnen sich beständig für fünf Kinder, vierzehn Enkel und ein Urenkelchen und für alle, möcht‘ man meinen, die ein wenig Herzwärme nötig haben. Dieses alte Haus wird ständig mit Leben gepflegt, seine wahre Substanz ist jung.

Der Luxus Urlaub

Sechs Jahrzehnte, mehr als ein halbes Jahrhundert lang kommt Christa Jentzsch nach Obermaiselstein. Sie stammt aus Braunschweig, ist ein Kriegskind. Der Vater bleibt noch lang nach Kriegsende in Russland. Die Familie haust in einem Zimmer in der ausgebombten Stadt – eine richtige Wohnung wird sich erst 1948 finden – und für Christa bedeutete Schulweg eine Dreiviertelstunden-Wanderung über Trümmerhaufen und Nachkriegstrostlosigkeit. Das Leben war teuer, eigentlich hat man immer und an allem gespart. Beim Dauser, hat dann jemand erzählt, beim Dauser kann man günstig wohnen.

Der Dauser hat damals Fremdenzimmer vermietet im Allgäu. In Obermaiselstein. Sieben Mark die Nacht, später hat es neun Mark gekostet und so sehr wenig war es auch nicht für Christas Eltern. Aber sie kamen ab 1959 regelmäßig in die Unterkunft der Dauser-Tochter Annelies Bader. Man hatte ja gespart.

Auf den langen Blick

Christa war im Olympiakader, 1960 in Rom, für `64 in Tokio. Geräteturnen war ihre Disziplin und klar, bevor man in den Kader kommt, hat man schon oft sein Können bewiesen. Medaillen, der Name weit oben in den nationalen Ranglisten und die Zeitungen bringen dankbar Bilder von erfolgreichen Athletinnen. Einem jungen Mann, ebenfalls Turner, namens Alfred Jentzsch war die talentierte Turnerin aufgefallen, er sammelte sorgsam Zeitungsmeldung um Zeitungsmeldung und war schon Zehn-Komma-Null in sie verliebt, lange bevor er 1961 wagte, sie anzusprechen. 10,0 ist übrigens die Bestnote im Turnen. Ein wenig später waren Christa und Alfred ein Liebespaar und Urlaubsgäste in Obermaiselstein. Dort hatte fünf Jahre vorher Adi Bader für die Dauser Annelies geschwärmt. Er musste ihr Bild nicht in der Zeitung suchen, sie waren ja gemeinsam im Trachtenverein. Weil er aber den Blick nicht von ihr wenden konnte, hat er einmal beim Fototermin den Auslöser verpasst. Auf dem offiziellen Gruppenfoto der Plattlergruppe schauen alle zur Kamera, er schaut zur Annelies, und strahlt übers ganze Gesicht.

Der weite Weg nach Hause

Die getrennten Zimmer der ersten Jahre haben der jungen Liebe von Christa und Alfred keinen Abbruch getan, 1965 wurde geheiratet und eines der Hochzeitsgeschenke war eine Tischdecke mit Alpenblumen-Dekor. Sie kam aus Obermaiselstein. Die Fahrt von Braunschweig war lang. Damals ging fast alles über Landstraßen, bei Stuttgart war der Aichelberg Staugarant und auch später waren die rund 700 Kilometer eher selten unter acht Stunden Fahrt zu machen. Trotzdem kam man oft. Manchmal vier Mal pro Jahr. Natürlich in den langen Sommerferien. Den Sylvester-Fackellauf versäumte man ungern, Ostern war auch immer so schön und im Herbst konnte man herrlich wandern. Und im Winter war stets eine Woche Skikurs angesagt, die Töchter fuhren bald so gut wie die Einheimischen.

Es geht aufwärts

Die Bergbahnen von heute haben mit den ersten Liftanlagen von `49 (die Horngratbahn in Bolsterlang) und `55 (der Ossi-Reichert-Schlepplift in Ofterschwang-Gunzesried) nicht mehr viel gemein, ganz zu schweigen von den Bedingungen auf Grasgehren und in Balderschwang. Vor dem Ausbau des Riedbergpasses anno 1959 hieß es zweieinhalb Stunden Fußmarsch, um im schneesicheren – „Bayerisch Sibirien“ genannten – Gebiet der Skileidenschaft zu frönen. Inzwischen bringen insgesamt 31 Lifte in den Hörnerdörfern zu knapp 90 Pistenkilometern. Zudem wird neben dem Komfort die ökologische Effizienz ausgebaut; vom fossilfreien Diesel für die Pistenfahrzeuge über ein Blockheizkraftwerk und die vollbiologische Kläranlage für die Berghütte bis zu den regionalen Speisen beim Einkehrschwung, tut sich viel. In Sachen Mut, Engagement und Innovationsgespür stehen die heutigen Skigebiete den ersten Lift-Initiativen in nichts nach.

Immer in Bewegung

Die Sport-Laufbahn der Familie Jentzsch hat zum weit entfernten Urlaubsziel gepasst. Christa und Alfred waren immer viel unterwegs – Profisport hat seine Trainingsmöglichkeiten selten vor der Haustür. Auch später, als Sportlehrer in der Schule und als Trainerin für Kader-Lehrgänge und im Verein waren die Wochenenden gern verbucht und mit langen Fahrten verbunden. Tochter Birgit turnte erfolgreich auf dem Trampolin und kam so viel herum. Ihre große Schwester Katrin kannte durch Turn- und Reitturniere die Fahrerei. Gleichzeitig konnten Eltern und Kinder die vielen Ferienzeiten voll ausnutzen und das Allgäu und die Hörnerdörfer in allen Stimmungslagen, sprich Jahreszeiten, genießen.

Wie Freundschaft entsteht

Zwischen Baders und Jentzschens passte schon bald kein Blatt mehr. Die Männer redeten sich ein „heißes Ohr“, zwischen Skilehrer (Adi Bader) und Turner (Alfred Jentzsch) fehlte es nie an Themen. Die Frauen waren sich auch wortlos einig, oft flossen Tränen beim Abschied. Die Kinder hatten mehrmals im Jahr weitere Geschwister und die weibliche Dorfjugend hatte Verstärkung. Es wurde eine tiefe Freundschaft. Wohl auch deshalb: Christa und Alfred schauten auf die Berge und sie wandten sich den Menschen dieser Berge zu. Obwohl es anfangs holperte. Mit der Sprache: Im Gasthof Hirsch betraten sie die Stube. Der ganze Raum ein einziger Stammtisch der Einheimischen, nichts haben sie verstanden, kein Wort von dem, was geredet wurde. „Aber es war zünftig“ erinnert sich Christa. Bei den Siegerehrungen am Skikursende und an den Heimatabenden hat man gut gefeiert und verständigt hat man sich am Ende bestens, man tanzte auf der Bühne bis in den Morgen.

Ereignisreiche Tage

Das Allgäu war immer eine Entdeckungsreise. Es war immer spannend, jedes Mal. Hier haben sie Skifahren gelernt und Langlauf – neue Sportarten für die sportlichen Jentzschs. Es gab die Hirschbrunft im Herbst, zu der man in der Dunkelheit ins Rohrmoostal aufbrach. Es gab den Versuch einer Skitour aufs Riedberger Horn. Rauf gings gut, runterwärts lernte man die Pragmatik der Allgäuer kennen, Adis Rat lautete schlicht: „Setz di aufs Fiedle“. Auf dem Hosenboden kommt man im Zweifel immer runter. Bei Regen gab es Kempten, mit Kirchen und Kultur zuhauf. Und die Wege, die Berge, die Landschaft selbst waren immer neu, auch wenn man sie längst kannte wie die eigene Westentasche. Die Kinder haben nie gesagt „Schon wieder?“ höchstens lautete die Frage: „Wann endlich?“.

Schöner Sonnenaufgang und tolle Herbststimmung am Ort der Besinnung Obermaiselstein

Der Lauf der Zeit

60 Jahre sind viel Zeit in einem Menschenleben. Ganz gleich, ob man ab dem ersten Schrei oder der ersten Liebe zu zählen beginnt, bei sechs Jahrzehnten ist die erste Dekade sehr jung, die sechste gehört schon dem Alter. Auch Orte und Regionen altern. Manchmal unmerklich, mal rasant. 

1963 war der Kirchebichl in Obermaiselstein noch nicht bebaut. Die Linde dort war nur halb so groß und selbst der alten Eiche auf der Spöck sieht man an, dass sie 60 Jahresringe zugelegt hat. Die Zeit ist nicht spurlos an Obermaiselstein vorbeigegangen. Das ist gut. Da sind jetzt neue Häuser, mit neuen Pensionszimmern, mit neuen Ferienwohnungen. Da ist mehr Kulinarik, da sind mehr Freizeitangebote, von Minigolf bis Kneipp-Anlage – alles, was das Herz begehrt. Einem Gutteil konnte die Zeit nichts anhaben. Das ist schön. Da sind noch die großen und kleinen christlichen Feste, mit ihrem Blumenschmuck. Da sind noch Funkenküchle, da rumpeln noch die Klausen, da grasen noch die Rinder in der gleichen Ruhe der Berge – so, wie es die Seele braucht.

Das Fotoalbum

Sieht man Christa heute, im Jahr 2023, ist es schwer vorstellbar, dass sie je jünger war als gerade eben. Die Haare weiß, aber frech und kurz, die Augen strahlen, die Stimme fest – außer wenn sie kichern muss. Sie lacht oft und man lacht mit, bei den Anekdoten mit den verrückten Wendungen und schrägen Situationen. Etwa der, wie man bei den Olympischen Spielen `70 in München der sowjetischen Kampfrichterin den „eisernen“ Blick mit etwas West-Parfüm zerstäuben musste, um der Fairness eine Chance zu geben. Als Tochter Katrin in alten Alben kramt, muss man die Zeit verwundert zugeben: Auf den blau- und gelbstichigen Bildern der 80er und 70er Jahre tauchen Ballonseide, Milchzahnlücken und ein Opel Kadett auf und bis in die weichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen der frühen 60er werden Alfred und Christa jünger und jünger.

Glück in Größe 50

Anfang der 60er Jahre gab es für Touristen im Allgäu: eine schöne Landschaft. Sonst nicht viel. Kaum Wanderwege, keine Karten, als „Gästeinformation“ fungierte die Hauswirtin, bei der man ein Zimmer bekam. Und zur Not wurde eins der Kinderzimmer auch noch zur „Hotelsuite“ gemacht.

Heute dagegen, viel Komfort, stellt Christa fest. Ausgebaute Wanderwege, Spielplätze und viele neue Sportarten – „das Allgäu wird wieder jünger“ sagt sie anerkennend. Vielleicht, weil das Neue und das „Alte“, das Quirlige und das Gemütliche gut nebeneinander Platz haben. Gut erkennbar im Winter. Niemand muss sich in den Hörnerdörfern zwischen wild und wohlig entscheiden. Oder zwischen Qualität und Geldbeutel, geht beides. Bestes Beispiel: Grasgehren. Das Skigebiet ist wie es heißt, ein Berg-Naturerlebnis. Die Pisten abwechslungsreich und bezahlbar, die Übersichtlichkeit im Kessel am Riedbergerhorn gerade für Familien mit mehreren Kindern unbezahlbar. Außerdem weiß man hier, dass Winterglück zuweilen nur ein Liegestuhl mit Panorama ist. Oder eine Schuhgröße. Christas Schwiegersohn ist langgewachsen. Auf Grasgehren lieh man ihm Skistiefel in Größe 50, denn wer will schon Skifahren lernen, wenn der Schuh drückt? Er fährt jetzt ziemlich gut.

Die erste Bergtour

Christa erinnert sich an die erste Fahrt ins Allgäu. Erster Tag, das das erste Mal überhaupt in den Bergen – zur Erinnerung, Boden (!)-Turnen war ihre Disziplin – sie wollten das Geld für die Bergbahn sparen, also zu Fuß hinauf aufs Nebelhorn. Hoch zum Edmund-Probst-Haus, zum Seealpsee und über den Gleitweg wieder runter. Alles in dünnen Halbschuhen, ordentliche Wanderschuhe hatten sie nicht. Christa und Alfred waren jung, das schon. Sie waren sportlich und trainiert. Aber für die Baders, ihre Vermieter, war es eine kleine Zitterpartie und nach Christa und Alfred haben nie wieder Allgäu-Neulinge so eine Leistung hingelegt.

Aus Sorge wurde Respekt, aus Respekt Freundschaft und unter Freunden hilft man sich: Da ist am Wannenkopf Heu zu machen? Da ist Richtung Pass ein Stück Vieh verloren gegangen und muss gesucht werden? Da müssen schwere Steine heruntergeschleppt werden, um den Vorplatz des Dauser-Hauses zu verschönern? Für die Jentzschs nie eine Frage, ob sie mithelfen, sondern Selbstverständlichkeit.

Die andere Erde

„Der menschliche Kontakt.“ sagt Christa Jentzsch, der war die Basis für alles. Menschlich, weil man bei so vielem dabei war, bei Festen und Feiertagen, weil die Kinder gemeinsam auf den Waldfesten tanzten und Schneckenrennen veranstalteten, weil man die Traditionen kennenlernte und die Liebe zur Natur teilte. Aber nie als Zuschauer. Und nicht nur in den guten Tagen. Zwei Mal hieß es für Christa Jentzsch neue Hüftgelenke als „Souvenir“ mitnehmen. 2007 hieß es Abschied nehmen von Adi Bader, dem Mann, der ihrer Familie die weiße Seite der Berge eröffnete. 2023 hieß es neuen Anlauf zu nehmen und nach dem Tod von Alfred erstmals allein ins Allgäu zu reisen. In 60 Jahren kommt genug an Sorge, Krankheit und Trauer zusammen. Es hilft, wenn man weiß, wo und bei wem man an Leib und Seele gesunden kann. Für Christa Jentzsch wurde das der hohe Süden des Allgäus. Man lebt mit, man ist im Takt mit diesem Ort und seinen Menschen.

Wenn man’s genau nimmt, kommt die 4. Generation der Familie ins Allgäu. Erst die Eltern, Ende der 50er Jahre, die Jentzschs ab 1963 – erst zu zweit, dann zu dritt, schließlich zu viert. Die Töchter Birgit und Katrin haben ihre ersten Schritte nicht etwa in Niedersachsen, sondern im Allgäu getan. Mittlerweile kommen auch die Enkel mit – nicht mehr vier Mal pro Jahr, die Jungen haben auch andere Ziele. Aber sie haben dafür auch einen jungen, einen anderen Blick auf diese Welt zwischen Grünten, Hochgrat und Nebelhorn. Sie sehen die Verwurzelung, sagt die Großmutter, sie sehen den Familienzusammenhalt. Sie sehen den respektvollen Umgang, das genaue Zuhören, sagt die Tochter. Kjell, der Enkel sagt, hier stehen die Menschen auf einer „anderen Erde“.
Sie ist scheints fruchtbar für eine Art der Gastfreundschaft, die aus Gästen Freunde macht.

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